Das Untopia

Es ist der Ort, wo die Blätter nie braun werden, die Kinder nie schreien.
Wo die Häuser in der Höhe der Wolken liegen.
Es ist der Ort wo die jungen Menschen alle gleich aussehen.
Wo es keine Bordelle gibt.

Es gibt keine Pflanzen, es gibt keine Kinder. Die Häuser auf Höhe der Wolken, die Strassen knapp drunter. An diesem Ort ist die Luft dünn, was aber nicht stört, denn die Bewohner atmen nicht. Die jüngste Generation hat die Seriennummer 123-UN0R7. Fühlen? Die neueren Modelle schon. Kein Grund die andern zu Briefbeschwerer, Isolationsmatten oder Schreibmaschienen zu verarbeiten. Gerade deswegen, dass die Neueren fühlen, gibt es dagegen Einwände.

Generell hat sich einiges verändert, seit der Ankunft der neuen Generation. Gefühle. Hätte Ken Eastwood gewusst, was dieses Feature mit sich bringt, er hätte seinem Boss davon abgeraten. Jeden Tag wird es chaotischer, auf Plattform XQ7. Und jeden Tag bangt Ken mehr um seinen Job. Was, wenn das Amt davon Wind bekommt? XQ7 ist die fortschrittlichste aller Plattformen. Die effizienteste, die facettenreichste. Gefühle sollten den Grundstein für das Entstehen von Kunst bilden. Stattdessen beginnen die Menschen zu streiten, entwickeln Gefühle, wie Eifersucht, Hass und Gier? Was hat er nur bei der Entwicklung der neuen Spielfiguren falsch gemacht? Und warum war er nur so dumm und hat keinen Notfall-Gefühls-Kontroll-Schalter eingebaut?
"Scheisse.", Kenn leert sein Whiskyglas und nimmt noch ein paar Schlucke direkt aus der Flasche. Es klopft an der Tür........

Ken Eastwood erhebt sich von der Couch streicht sich über seinen Truckerschnurrbart und ergreift seine Flinte. Leise drückt er die Lamellen des Wohnwagenfensters auseinander und späht in die dunkle Nacht. Nur zur Sicherheit. Schliesslich wollte er seinen Job auf keinen Fall verlieren und wenn er tot war, konnte er dem Amt nicht mehr vertuschen, was auf Plattform XQ7 so abgeht. Er würde sofort entlassen werden. Natürlich war es nicht mehr so schlimm entlassen zu werden, wenn man bereits tot war, aber dennoch ist es eine bessere Idee um seinen Job zu kämpfen. So dachte er es sich auf jeden Fall, bemerkte dann eine leichte Verwirrung im Kopf. War wohl der Whisky.
Er öffnet die Tür seines Wohnwagens und zwei leere Augen starren ihm entgegen. Eine prähistorische Büchse steht vor ihm. Uralte Version mit wenigen Funktionen. Nur zweifarbig coloriert und mit diesem altmodische 80er-Jahre-Truckerschnurrbart über dem Mund. Ken Eastwood bereute immer wieder, dass er gerade diesen Modellen sein Markenzeichen abgegeben hatte. Er wollte sich nicht mit diesen Hohlköpfen identifizieren. Aber wohl ist er langsam auch ein altes Modell? Vielleicht übersteigt das Ganze auch langsam seine Kraft. Er seufzt und lässt seine Flinte sinken.
"Post für sie, Ken Eastwood, Plattform XQ7, Sektor 34JX, Register 43-3C, Abtei..."
"Ist ja schon gut."
Unterbricht ihn Ken müde und nimmt den kleinen Chip entgegen. Die Postbüchse rasst in die Dunkelheit und Ken schlägt die Tür zu, humpelt zu seinem Holo-K3-Visualisator und drückt den Chip in den Slot. Das Gerät heult auf und projeziert ihm das Hologramm. Schweiss perlt auf seiner Stirn, gebannt starrt er auf das bewegte Bild...

Ein schwarzer Umhang erscheint. Die Person darunter sieht man nicht. Das Amt. Immer muss es so misteriös erscheinen, denkt sich Ken. Trotzdem schauert es ihm. Er greift nach seinem Whisky und ein dunkler Stimmenchor ertönt aus dem Umhangt:
"Ken Eastwood, Installator der Plattform XQ7, sie sind vorgeladen.
Die von ihnen entwickelte Generation "Feel" erzeugt erhebliche Interaktions-Shwankungen, durch welche die Plattform zu kippen droht.
Wir geben ihnen 78000 Zeiteinheiten, um den Fehler zu beheben.
Andernfalls müssen wir XQ7 entmaterialisieren.
Sie werden sich in jedem Falle in 78000 Zeiteinheiten vor dem Amtsgericht stellen müssen.
Wir wünschen ihnen viel Erfolg."

Wir wünschen ihnen viel Erfolg. Wie nett, denkt sich Ken. Viel Erfolg. Gefeuert werd ich sowieso. Wenn ich Glück hab, komm ich in Frührente. Doch hat er längst nicht genug Mirane zurückgelegt, um sich auf einem angenehmen Planeten einzukaufen. Scheiss System!, Ken trinkt Whiskey. Er trinkt so lange, das er nach Luft ringen muss, als er endlich den Flaschenhals von seinem Mund lässt. Warum besaufe ich mich jetzt? Ich brauche einen klaren Kopf. Ich habe diese Generation entwickelt. Es muss doch irgendeinen Weg geben sie zu lenken!

Haha.

Muss jetzt gleich los... Bis später!

So lässt Ken den Computer in der Ecke aufheulen und loggt sich in die Subauktoriale-Entwicklungsumgebung der Plattform XQ7 ein. Kaffee, das war jetzt höchste Priorität und für ihn auch kein Problem. Nach einigen Nullen und Einsen ist ein Objekt erstellt, Getränk, davon geerbt: Kaffee - eine grosse Kanne. Nur noch rendern und materialisieren und die richtigen Koordinaten eingeben - x:45698320.34y:231.5251312z:1111223.0000423 - damit sie neben ihm auf dem Pult erscheint und nicht irgendwo 1 Kilometer von seinem Wohnwagen entfernt in der kahlen Wüste der unentwickelten Region der Plattform XQ7. Sie landete korrekt, wenn auch kritisch nah an der Tischkante. Glück gehabt. Er goss sich die Tasse voll.

Kenn wusste nicht wirklich woher er kam. An die Zeit vor dem Billiardspielen im "Perfect Hell" erinnert er sich kaum noch. Verschwommene Bilder von einem Vorort mit Wäscheleinen über den Strassen, von einer korpulenten Frau an einem Suppentopf und von einem grossen Roboter konnte er hervorrufen, aber das war's dann auch schon.
An die Zeit des Billiardspielens im "Perfect Hell" erinnert er sich hingegen noch gut. Das war sein Leben. Tag für Tag. Aufstehen, ins "Perfect Hell" - die etwa heruntergekommenste Spelunke der Plattform - einen Whisky bestellen und warten, bis sich jemand wagt gegen ihn zu spielen. Gewinnen, einkassieren, schlafen gehen.
Während des Spieles hatte er viel Zeit zu denken, aber glücklicherweise immer genug Whisky, um davon nicht verrückt zu werden. Seine Gedanken waren somit klar und einfach. Genau wie sein Leben. Kompliziert wurde es wie auch die Gedanken erst, als dieser Typ mit Edelstahl-Helm und Kravatte ins "Perfect Hell" trat, ihm auf seine Pranke auf die Schulter legte und sagte, er hätte einen Job, den Ken eventuell interessieren könnte.

Ken hustet, hämmert wild in die Tastatur und bemerkt, dass dies alles kein Zweck hat. Dass die neuen Modelle anfangen zu Fühlen war doch eine gute Idee. Sich freuen und sich lieben ist ja nicht Alles. Dazu gehört Trauer und Hass. Nicht dass Ken das absichtlich so entwickelt hätte, aber das ist halt nun die Nebenwirkung. Dass sie gleich beginnen Panzer und Raketen zu bauen um sich gegenseitig zu vernichten, war doch nicht sein Fehler. Und doch, hätte er das "Feel" nicht in den Release gegeben, wäre die Welt auf der Plattform XQ7 noch in Ordnung.
"Das hat keinen Zweck.", murmelt er wütend vor sich hin. "Das hat alles keinen Sinn!"
Er lässt seine Fäuste auf die Tastatur fallen, reisst die Kabel des Computers aus der Steckdose, erhebt sich aus dem alten Sessel, wankt zur Tür und tritt keuchend heraus in die leere, neongrüne Luft.
"Zum Teufel mit der Scheisse. Wenn ich noch was retten möchte, dann geht das nicht mit ein bisschen programmieren."
Und hastig tritt er über den staubigen Boden zu seiner EK3-Conversions-Schleuder...